Kontrollierter Wandel

Über die Vorbedingungen der nationalen Versöhnungspolitik in Namibia

Die namibische Versöhnungspolitik ist vielfach wegen ihrer rigiden Schlussstrichmentalität kritisiert worden. Allerdings verwundert die mangelnde Aufarbeitung der Apartheidsvergangenheit weniger, wenn man sich die Rahmenbedingungen der staatlichen Unabhängigkeit ins Gedächtnis ruft.

von Tobias Müller

»Lasst uns von diesem Tag an vergessen und das traurige Kapitel hinter uns lassen; jene Erinnerungen an die bitteren langen Jahre des Konflikts, Rasenhasses und tiefen Misstrauens unter den Namibiern müssen für immer begraben werden.«  Viele westliche Beobachter zeigten sich erstaunt, als der angehende Präsident Sam Nujoma nach den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung 1989 die Grundzüge der namibischen Erinnerungspolitik umschrieb. Nach Jahrzehnten des erbitterten Befreiungskriegs klangen diese Worte auffallend versöhnlich.

Gemälde zur Unabhängigkeit Namibias.

Die Annahme eines plötzlichen Umschwungs seitens der künftigen Regierungspartei SWAPO (South-West Africa People’s Organisation) trügt jedoch. Vielmehr war die Unabhängigkeit Namibias das Ergebnis einer Verhandlungslösung. Die politische Manövrierfähigkeit bewegte sich im Rahmen eines historischen Kompromisses, der auf einen über 20 Jahre andauernden diplomatischen Konflikt zurückging. Die wachsende Zahl beteiligter Akteure legte nahe, dass jeder Lösungsansatz auf wackeligen Füßen stehen würde – und dass darin, keineswegs nur nebenher, ganz andere Interessen verhandelt wurden. Schließlich spiegelte sich dies in den Kräfteverhältnissen der namibischen Transitionsperiode 1988-90 wider, in der die SWAPO aus einer geschwächten Position agierte. Zwei deutliche Indizien dafür sind ihr Ausschluss von den multilateralen Verhandlungen 1988 sowie ihr Abschneiden bei den ersten freien Wahlen ein Jahr später. Mit knapp 57 Prozent gewann sie zwar die absolute Mehrheit, verfehlte allerdings deutlich die Zweidrittelmarke, die zur Verabschiedung der Verfassung benötigt wurde. Die SWAPO war also auf Kooperation angewiesen.

Eine zentrale internationale Vorgabe der Verfassungsgebenden Versammlung war, die Constitutional Principles zu übernehmen, die 1982 von der so genannten Kontaktgruppe (den damaligen westlichen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats) als Ergänzung der UN-Resolution 435 formuliert worden waren. Sie beinhalteten die Übernahme der Eigentumsverhältnisse aus der Apartheidära und erlaubten Enteignungen nur in Ausnahmefällen und gegen angemessene Entschädigung. Damit standen die Constitutional Principles der vormals sozialistischen SWAPO-Rhetorik entgegen. Sie war jedoch nicht in der Position, sich darüber hinweg zu setzen. Ferner gewährleisteten sie gleichen Zugang von Weißen und Schwarzen zum Öffentlichen Dienst und zu den Sicherheitskräften, die auf dieser Grundlage paritätisch besetzt wurden.

Öffentlicher Zynismus

Dieses Prinzip erfuhr kurz nach der Unabhängigkeit eine zynische Realisierung als paritätische Integration von Kriegsverbrechern. Die SWAPO ernannte 1990 etwa den berüchtigten Chef ihres Sicherheitsdienstes, Salomon »der Schlächter von Lubango«  Hawala, zum Oberkommandierenden der Streitkräfte. Der öffentlichen Kritik daran begegnete Informationsminister Hidipo Hamutenya mit dem Argument, dass in Armee und Polizei ebenso Mitglieder der südafrikanischen Streit- und Sicherheitskräfte verblieben seien, die an Verbrechen teilgenommen hätten. Dies galt etwa für General Piet Fouché, dem ersten Polizeichef des unabhängigen Namibia, und für General Willie Meyer, der für den Tod zahlloser namibischer Befreiungskämpfer verantwortlich gemacht wurde.

In den Verhandlungen zur Unabhängigkeit erklärte die SWAPO sich bereit, die 60.000 Beamten des südafrikanischen Verwaltungsapparats zu übernehmen, ebenso sämtliche Justizstrukturen und Rechtsprechung und nicht zuletzt fast 800 Millionen Rand Schulden, die Südafrika zielsicher angehäuft hatte, um der jungen Republik die ersten Gehversuche zu erschweren. Diese Entscheidungen bildeten den sozioökonomischen und strukturellen Rahmen der Versöhnungspolitik. Das Fehlen jeglicher Strafverfolgung basierte auf den daraus resultierenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Bezeichnenderweise waren es zwei Erlasse der südafrikanischen Administration, die 1989 und `90 die Amnestie erst für zurückkehrende Exilanten und dann für Angehörige der südafrikanischen Sicherheitskräfte endgültig bestätigten. Selbst zu einem Zeitpunkt, als Namibias Unabhängigkeit bereits beschlossene Sache war, wurde die Straffreiheit seiner Bürger von Südafrika gewährt.

Internationalisierung und ...

Ein Rückblick: Die Bedeutung seines ehemaligen Treuhandgebiets wuchs für das Apartheidregime analog zur Internationalisierung des diplomatisch-militärischen Konflikts um Namibia. Anfangs standen sich dabei nur die Vereinten Nationen und Pretoria gegenüber. Ungeachtet der ersten Aufforderung durch die UN 1946, sich aus Namibia zurückzuziehen, dehnte Südafrika die Apartheid zunehmend auf seine de-facto-Kolonie aus. Die repressive Siedlungspolitik mit systematischen Vertreibungen gipfelte 1964 im Odendaal-Plan, der zum zentralen Baustein der weißen Minderheitenherrschaft in Namibia werden sollte. Auf der Grundlage der ‘getrennten Entwicklung’ empfahl er die Einrichtung von zehn Pretoria unterstellten Homelands, sog. »Bantustans«  nach ethnischen Gesichtspunkten. Unter dem Vorwand sozioökonomischer Verbesserung diente dies der Tribalisierung und Zersplitterung des aufkommenden Widerstands. 1966 entzogen die UN Südafrika das noch vom Völkerbund verliehene Mandat über Namibia. 1971 erklärte der Internationale Gerichtshof die Besatzung für illegal.

Die Unabhängigkeit Mosambiks und Angolas 1975 änderte die Machtverhältnisse im südlichen Afrika grundlegend. Die sozialistischen Mehrheitsregierungen von Frelimo und MPLA stellten eine Bedrohung für die Vormachtstellung des Apartheidregimes dar. Pretoria begann eine Politik der konterrevolutionären Destabilisierung, in der Namibia eine enorme Bedeutung zukam. Insbesondere die »Bantustans«  erfüllten eine Doppelfunktion als Pufferzone und militärisches Aufmarschgebiet. Trotz moralischer Verurteilung der Apartheid sah der Westen Südafrika immer noch als antikommunistischen Brückenkopf an. Die sozialistischen Staaten hingegen verschafften sich u. a. mit finanziellen Zuwendungen an die Befreiungsbewegungen Einfluss. Eine Schlüsselposition kam Angola zu, das der SWAPO sein Territorium für Militär- und Flüchtlingscamps zur Verfügung stellte. Die Anwesenheit kubanischer Soldaten ab 1975/76 erweiterte diese Dimension noch, da sich dadurch die USA verstärkt zur Einmischung berufen fühlten.

... Namibianisierung des Konflikts

Das namibische Nationaldenkmal "Heroes Acre" nahe Windhoek.

Angesichts des steigenden internationalen Drucks war der Rückzug Südafrikas unumgänglich.  Pretoria versuchte, diesen Schritt so lange wie möglich hinauszuzögern. Unter dem Namen »interne Lösung«  betrieb das Regime die schrittweise Übertragung politischer Repräsentation und Befugnisse auf der Basis ethnischer Segregation. Die von Namibia 1990 übernommene Administration stammt aus dieser Zeit, in der auch ein eigener Sicherheitsapparat aufgebaut wurde. Unter Einbeziehung konservativer und gemäßigt-reformistischer Kräfte wurde 1977 eine Verfassung verabschiedet, die die Prinzipien der Apartheid bestätigte und die SWAPO von politischer Partizipation ausschloss. 1978 sollte die beschränkte Unabhängigkeit folgen. Die breite internationale Ablehnung dieser Pläne zog neue diplomatische Initiativen nach sich. Die UN erließ die Resolution 435, die den Abzug Südafrikas und freie Wahlen unter ihrer Aufsicht vorsahen. Die Kontaktgruppe (Kanada, USA, Großbritannien, Frankreich, BRD) betrat als Vermittlungsinstanz das diplomatische Parkett. Da sie jedoch Sanktionen aktiv blockierte, stärkte sie indirekt die Position Südafrikas. Aus einer diplomatischen Annäherung zwischen Pretoria und Washington 1981 resultierten schließlich zwei Grundbedingungen der späteren Verhandlungslösung: Zum einen sollte der Abzug Südafrikas an denjenigen Kubas aus Angola geknüpft werden. Zudem forderten sie verfassungsmäßige Garantien zum Schutz der weißen Bevölkerung und ihres Eigentums. Obwohl die SWAPO jeden äußeren Einfluss auf die Inhalte der zukünftigen Verfassung ablehnte, übernahm die Kontaktgruppe in den Constitutional Principles diese Forderung.

Die 1980er Jahre wurden dann wesentlich von zwei Entwicklungen geprägt: Zum einen die weitere militärische Eskalation zwischen SWAPO und südafrikanischen Truppen, in der sich Pretoria unter dem Stichwort der »Namibianisierung des Konflikts« zunehmend auf die Rekrutierung der einheimischen Bevölkerung verlegte. Außerdem verstärkte es seine Versuche, die SWAPO durch Spionage und Infiltration zu unterwandern. Zum anderen betrieb Südafrika eine Politik des »kontrollierten Wandels«, unter der es weiterhin gefügige Kräfte protegierte und sie schließlich 1985 als »Übergangsregierung«  einsetzte. Auch im Hinblick auf die wirtschaftlichen Voraussetzungen eines unabhängigen Namibias wurden Vorkehrungen getroffen: Die Produktion vor allem im Minensektor wurde intensiviert, um möglichst viele Ressourcen abzuführen. Der Politologe Horace Campbell konstatierte 1989: »Für die Südafrikaner ging es darum sicherzustellen, dass die Unabhängigkeit keine authentische sein würde.« 

Dass dieser Druck auch in der Transitionsphase fortbestand, ist schließlich eine der Besonderheiten der namibischen Situation, die nicht zuletzt auf die Versöhnungspolitik von entscheidendem Einfluss war. Noch 1989 wurden Massaker von südafrikanischen Truppen an aus Angola zurückkehrenden Exilanten begangen.1 Das südafrikanische Apartheidregime war noch nicht aus der Welt, sondern nur hinter der Grenze. Die strafrechtliche Verfolgung südafrikanischer Kriegsverbrechen wäre in dieser Konstellation zumindest ein äußerst kompliziertes Unterfangen geworden. Diese Tatsache begünstigte wiederum die Verweigerungshaltung der SWAPO, was eine Aufklärung ihrer eigenen Vergangenheit betraf. Der damalige Parlamentssprecher der SWAPO, Mose Tjitendero, fasste die resultierende Situation wie folgt zusammen: »Die Politik der Nationalen Versöhnung ist die einzige Basis, wie Namibia als Nation überleben kann.«  Zieht man von dieser Einschätzung den propagandistischen Alibi-Faktor ab, den die Versöhnungspolitik für die SWAPO stets hatte, bleibt unter dem Strich dennoch ein Rest Wahrheit.

Anmerkung

1 Bis heute ist umstritten, ob Sam Nujoma eine Mitschuld an diesen Massakern trägt, weil er entgegen des Waffenstillstandsabkommens nicht allein Zivilisten, sondern in einem Himmelfahrtskommando auch militärische Einheiten »repatriiert« habe.

Tobias Müller ist freier Journalist und Nachtportier in Amsterdam.

Auf www.freiburg-postkolonial.de ist seine Magisterarbeit »Die Politik der nationalen Versöhnung in Namibia« verfügbar.

Der hier veröffentliche Artikel von Tobias Müller wurde uns freundlicher Weise zur Verfügung gestellt vom iz3w - informationszentrum 3. welt und ist in der iz3w-Sonderausgabe mit dem Schwerpunkt Namibia im Mai/Juni 2007 erschienen. Das Heft setzt sich kritisch mit gesellschaftlichen Themen wie Landreform, Aids und Apartheidsfolgen auseinander.

www.iz3w.org

 

 

 

 

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